Wie die Dinge liegen

Das Jahrbuch der Lyrik als Symptom


Das Jahrbuch der Lyrik (derzeit beim Verlag Schöffling & Co.) gibt es seit 1979. So lange schon dient es als Schaufenster für die deutschsprachige Lyrik; allein durch diese Langlebigkeit hat es sich einen institutionellen Charakter erarbeitet. Es macht allerdings nur wenig Spaß, in die Ausgabe von 2023 hineinzuschauen.

Das fängt schon damit an, dass man an allzu viele Texte in dem Band die Frage stellen muss, warum sie überhaupt Gedichte sein wollen. Nebenbei: Es ist klar, dass das Jahrbuch mit dem Begriff „Lyrik“ allgemein auf Poesie und nicht nur auf Gedichte abzielt, aber wer auf 209 Seiten 147 Texte versammelt, macht ein Gedichte-Jahrbuch und nicht ein Jahrbuch der epischen Dichtung.

Was ist ein Gedicht?

Gedichte sind relativ kurze Texte, bei denen auf wenig Strecke sehr viel (manchmal schier unsagbar viel) Bedeutung stattfindet, und zwar in rhythmisierter Sprache. Es spielt dabei keine Rolle, ob Reime gleich welcher Art vorkommen, aber auf eine Rhythmisierung der Sprache, entweder nach streng metrischen Gesichtspunkten oder in eher freier Form, kann nicht verzichtet werden. Das Ziel der Übung ist eine formale und/oder emotionale Intensivierung sprachlicher Äußerung, und das mit oder ohne explizit kommunikative Absicht. An dieser schon sehr weiten Definition des Gedichts scheitert ein hoher Anteil der Texte in dem Band.

Denn das bloße Heruntererzählen eines schockierenden Ereignisses im Ukrainekrieg ("mein freund ist kurz zigaretten holen", Anastasia Averkova) oder einer nächtlichen Diskussion in Köln ("Mondland, während", David Krause) ist kein Gedicht, egal wie bemüht man den Text in Pseudoverse auflöst. Einer der besten Texte im Band ("Die kleinen Füchse" von Ulf Stolterfoht) ist ein interessantes Verwirrspiel um Erzählstrategien in der Kurzprosa, aber kein Gedicht. Der passiv-aggressive Brief an Jeff Bezos in unsicherem Englisch, den sich Elisabeth Pape zusammenfabuliert hat ("Das Geld eben 5,55 €"), mag ein Stück (schlechter) Protestliteratur sein, aber er ist kein Gedicht. Wenn man wie Anna Breitenbach eine WWF-Mitteilung zum Tierschutz in der Schweiz abschreibt und mit einer kleinen Zusatzbemerkung versieht ("Hasendichte"), kommt man irgendwo an, aber nicht bei der Poesie. Zitat: "(…) In der ganzen Schweiz sei der / Bestand auf durchschnittlich / 2,7 Hasen pro Quadratkilometer / abgesackt. Da kann man schon / von Hasenlichte sprechen, / denke ich, und dass die Schweiz, / wenn sie so weitermacht, auf dem / besten Weg zum Einzelhasen ist."

Soll es der Wahrheitsfindung dienen, dann dürfen Gedichte gerne lakonisch sein. Lakonie war in den 1970ern und 80ern ein hochgeschätztes Stilmittel, und das mit gutem Grund, verhindert sie doch wirkungsvoll pathetisches Herumdichten, wenn sie gut eingesetzt wird. Banalität oder das bloße Durchpausen des Alltags ist aber etwas anderes als Lakonie.

Man kann die Ansicht vertreten, dass Gedichte per se experimentelle Literatur sind. Die oben skizzierte Definition eines Gedichts erzwingt das geradezu; wann immer von "Verdichtung", "verdichteter Sprache" in der Poesie die Rede ist, dann geht es darum, die Sprache des Gedichts durch Bedeutungssättigung von der Alltagssprache zu entfernen. Ebenso banal wie wahr ist es aber auch, dass Experimente fehlschlagen können, und für diese Binsenweisheit liefern einige Texte im Jahrbuch 2023 starke Belege. Nehmen wir zum Beispiel "Exit Großer Goldkäfer" von Ulrike Draesner. Den Basistext, der botanisches und sprachliches Unterholz miteinander abgleichen will und Kritik an romantischen Naturmissverständnissen übt, kann man mögen oder auch nicht. Völlig überflüssig ist es aber, den Text durch das systematische Wegstreichen verschiedener Buchstaben interessanter machen zu wollen als er ist - und das auch noch dreimal hintereinander. Maja Dara Cojocaru stellt den Anspruch an ihren Text in seinem Titel aus: "Multispezies-Poesie (vom Typ 3.1) in zehn Schritten – Eine Anleitung". Was folgt, ist ein alberner Nicht-Text, der wortwörtlich dazu dienen soll, einen Hund an der Nase herumzuführen – ein kleiner, läppischer Witz, der sich selbst auch noch zu ernst nimmt.

Norbert Lange hat sich in "Lochkarte" wirklich abgemüht mit der Permutation eines Gedichtbruchstücks von Jesaias Rompler von Löwenhalt (1605-1672): "Viel minder, Blumen, noch die Gärten sind erstarrt". Nach dem zwanzigsten Durchlauf ist aber vor allem das Interesse des Lesers komplett erstarrt. "Viel minder, Blumen, noch die Gärten sind erstarrt; / Viel minder sind, Blumen noch die Gärten erstarrt; / Viel, minder, Blumen, noch die Gärten sind erstarrt; / Viel, Blumen minder, noch die Gärten sind erstarrt; / Viel, Blumen noch minder, die Gärten sind erstarrt; / Viel, erstarrt; Blumen minder noch die Gärten sind, (…)" und so weiter und so fort.

All diese schlecht gehandhabten Tricks und Kniffe aus dem Dadaismus, der konkreten Poesie oder dem L'Ouvroir de Littérature Potentielle (Oulipo) wirken im vierten und fünften Aufguss leider genauso überzeugend wie der vierte und fünfte Aufguss eines Teebeutels.

Politk spielt natürlich im Jahrbuch auch eine Rolle, man will ja schließlich nicht die engagierte Literatur vergessen. Neben dem schon erwähnten Ukrainekrieg kommen auch die anderen üblichen Verdächtigen zu ihrem Recht, also zum Beispiel der Krieg generell, das Artensterben und natürlich die Klimakrise. Eine Gemeinsamkeit aller Jahrbuchtexte, die diese Problemlagen direkt ansprechen: Sie sind maximal vorhersagbar in ihrer Ablehnung des Schlechten und ihrer Zustimmung zum Guten. Der Versuch der Bedeutungssättigung durch poetische Mittel ist an den Banalitäten verschwendet, die diese Gedichte leichtfertig zu ihrem Thema machen. Dadurch werden sie schlicht langweilig oder unfreiwillig komisch. Aber man kann es auch als Form des Opportunismus sehen, dass hier offensichtlich nach Aktualität gehascht wird, ohne groß auf die Textqualität zu achten, und dann gesellt sich zur Langeweile noch der Ekel hinzu.

Alles Mist also? Natürlich nicht. Da wären die Anagrammgedichte von Florian Kranz zu nennen ("Dein Name tropft wie weiches Rindertalg", "Mindesthaltbarkeitsdatum"), der halt wirklich weiß, wie man mit Sprache spielt – so wie es zum Beispiel Oskar Pastior auch wusste. Oder man nehme "rückblick IV" von Johanna Hansen, ein Gedicht über eine Alltagssituation im Pflegeheim, die durch Poetisierung eben nicht abgemildert oder ästhetisiert wird, sondern ganz im Gegenteil eine größere Wucht bekommt. "kann ich es riechen im herbst sagst du das sterben / wird es schlimm sein nein lüge ich im garten des / pflegeheims fressen die schnecken lauter gärendes / obst (…)." Auch "Blindschleiche" von Dominik Kohl entfaltet Wirkung: Eine unbehagliche Mensch-Tierverwandlung wird am Ort ihres Stattfindens poetisch durchexerziert und nicht nur angedeutet. "Wie im Traum bin ich dort aus den Wiesen gestiegen, / beinlos, blinzelnd, ein langer Hals aus Mittagen, die / achtlos an den Schatten schlichen, züngelnd, mit / dem knöchernen Lid (…)".

Aber das sind Ausnahmen. Ansonsten ergibt sich viel zu oft ein Bild der post-postmodernen Gleichgültigkeit. Da schreibt man mal einen Text und nennt ihn ein Gedicht, es wird schon passen. Wie ist das alles so kraftlos geworden? Das Argument, dass Freiheit in der Literatur eben darin besteht, alles gleich- und nebengeordnet gelten zu lassen, war schon immer schwach und denkfaul, und Gedichte mögen in vielerlei Hinsicht grundsätzlich fragwürdig sein, aber Gleichgültigkeit ist das Gegenteil von Poesie.

Was tun? Hilft die Rückkehr zu anderen Maßstäben? Zur monumentalen Einfachheit Rafael Albertis ("Aufforderung") oder zur kristallinen Hermetik Paul Celans ("Zuversicht")? Oder soll man gleich ganz zu irgendeiner Form von "Klassik" zurückspringen, mitsamt den erprobten Versfüßen und Strophenformen, damit das moderne Spießertum Gedichte schon am Etikett erkennt? Das wäre genauso sinnlos und giftig wie die rechtsgewirkten, rückwärtsgewandten Architektur-Rekonstruktionen, die seit einiger Zeit in deutschen Innenstädten um sich greifen.

Es würde aber vielleicht doch etwas ganz Einfaches helfen. Viele der Texte wirken, als ob sie nicht Zeit genug gehabt hätten, eine Form zu finden. Ja, die Produktionsbedingungen in der Literatur sind genauso terroristisch wie in anderen kapitalistischen Wirtschaftszweigen. Die Messe naht, jedes Jahr muss ein Band raus, publish or perish. Aber wie wäre es mit ein bisschen Widerstand? Für den Anfang könnte es eine Lösung sein, Sachen einfach länger liegen zu lassen und strenger auszusortieren, was dem Test der Zeit nicht standhält. Das nur so als Vorschlag.

Jahrbuch der Lyrik 2023, hrsg. von Matthias Kniep und Sonja vom Brocke, Erste Auflage 2023, Schöffling & Co., 24 Euro